Hochschule Reutlingen
30.11.2022

„Entwicklungshilfe ist keine Massenware“

Kriegsreporter Wolfgang Bauer besucht Honours Programm des BSc International Business

Von Anna Goeddeke und Katrin Reil

Der ZEIT-Journalist Wolfgang Bauer zählt zu den erfahrensten und profiliertesten Kriegsberichterstattern Deutschlands. Für seine Arbeit in Ländern wie Afghanistan, Syrien, Libyen und der Ukraine wurde er national und international vielfach ausgezeichnet. Mit einer kleinen Delegation besuchte er nun das Honours Programm des BSc International Business. Im Fokus des Austauschs mit den Studierenden stand Afghanistan, die dortige Rolle des Westens sowie Perspektiven für das Land.

„Ich verstehe Menschen nicht, die zum Mond und zum Mars fliegen wollen, wenn sie noch nicht in Afghanistan waren“, fasste Wolfgang Bauer seine Faszination in einem Satz zusammen. Seit seiner ersten Reportage dort im Jahr 2002 berichtete er immer wieder über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Landes. Afghanistan, so Bauer, provoziere natürlich viele Werte, die ihm wichtig seien wie Freiheit oder Gleichberechtigung. Gleichzeitig sei es aber ein Land voller Geschichten, die erzählt werden müssten.

Dabei unterstützten Wolfgang Bauer über die Jahrzehnte hinweg immer wieder Menschen vor Ort. Waheedullah Masoud ist einer von ihnen. Er lebt heute in Reutlingen und begleitete den Journalisten an die ESB Business School, um seine Perspektive einzubringen. Auch für ihn als Übersetzer sei es immer wichtig gewesen, Geschichten und Menschen zusammenzubringen und das zu vermitteln, was in verschiedenen Sprachen zwischen den Zeilen gesagt wird. Aufgrund seiner Zusammenarbeit mit westlichen Medien wurde Masoud bedroht und musste mit seiner Familie aus Afghanistan fliehen.

Auch Wolfgang Bauers zweite Begleiterin verließ das Land in den Tagen der Machtergreifung durch die Taliban. Moqadasa Mirzad ist erst 21 und war selbst Studentin an der Kardan University in Kabul. Eindrücklich berichtete sie von ihrer Zeit dort als einzige Frau neben 61 Studenten im Fach Computer Science: „Es war anstrengend, weil ich nicht wirklich Kontakt zu den männlichen Studenten hatte und Gruppenarbeiten alleine machen musste.“ Mit ihrer Flucht musste sie auch ihr Studium aufgeben und nun in Deutschland erst einmal die Sprache lernen. Was sie danach machen möchte, weiß sie noch nicht. In ihrem Alter, so erzählte sie, wäre sie in Afghanistan längst verheiratet oder zumindest verlobt. Dass sie das noch nicht sei, sei ein bisschen rebellisch.

Neben den eindrücklichen Schilderungen aus erster Hand gab es auch viele inhaltliche Diskussionen mit Wolfgang Bauer und seinem Team, zum Beispiel über Fluch und Segen der „Ring Road“, die viele afghanische Städte miteinander verbindet. Auch von seiner letzten Reportage aus Afghanistan berichtete der Journalist. Er habe Mädchen besucht, die von den Taliban aus den Schulen geholt und worden seien und jetzt als Teppichknüpferinnen arbeiten müssten – zwölf Stunden am Tag und bei schlechter Beleuchtung, so dass sie ihr Augenlicht verlieren. „Würden Sie so einen Teppich kaufen?“, fragte der Kriegsberichterstatter in die Runde. Das sei eine schwierige ethische Frage, denn dem Schicksal der Mädchen stünde die wirtschaftliche Notwendigkeit gegenüber, gab er selbst die Antwort: „Die Menschen brauchen das Geld.“

Die Rolle des Westens in Afghanistan bewertet der Journalist kritisch: „Wir haben in zu kurzer Zeit zu viel Geld in Kurzfristprojekte in diesem Land gesteckt, ohne wirklich verstanden zu haben, wie es funktioniert. Entwicklungshilfe ist keine Massenware, sondern muss individuell angepasst werden.“

Die Atmosphäre im Raum bewegte sich während des angeregten Austauschs zwischen Gelächter und betroffener Stille. Mit neuen Einsichten in ein Thema, das nicht vergessen werden sollte, verabschiedeten sich die Studierenden von Wolfgang Bauer, Moqadasa Mirzad und Waheedullah Masoud.